Wieso gelingt dies besonders gut?

Durch Karate ist eine Integration in die Mehrheitsgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland besonders gut möglich. Grundlagen für diese These liegen neben praktischen Erfahrungen, in Integrations-, Sozialisations- und Identitätstheorien sowie sportethnologischen Betrachtungsweisen verortet (zsf. Oehmichen, 2010). Sie lassen sich auf inhaltliche Besonderheiten des Karate zurückführen, die diese Kampfkunst insbesondere von technisch verwandten (Kampf-)Künsten unterscheiden und in besonderem Maße gelingender Integration zuträglich sind.

Kurz illustriert werden soll dies an folgenden sieben Hauptcharakteristika, die integrationsfördernde strukturelle Eigenschaften des Karate darstellen und dazu beitragen, überkulturelle Werte durch körperliche Praxis zu vermitteln:

a) Respekt bekundende Ritualhandlungen als regelmäßiger Bestandteil der Trainingspraxis

Ritualhandlungen sind fester Bestandteil des Trainings und geben diesem einen fest definierten Rahmen. Die meisten dieser rituellen Handlungen (z.B. Verbeugungen, Abgrüßen) haben Respekt bekundenden Charakter und helfen, alle Mittrainierenden auf die gleiche Ebene zu stellen sowie Achtung untereinander aufzubauen. Dies wird zusätzlich dadurch bestärkt, dass Karate eingebettet in eine andere, fremde Kultur (nämlich die japanische) stattfindet. Jedes Training beginnt beispielsweise gleich zu Beginn mit einem kurzen meditativen Ritual. Alle Teilnehmenden, egal welcher Herkunft, befinden sich also gemeinschaftlich auf neutralem Boden.

b) Soziales Netzwerk sämtlicher Sozialschichten

Im Karate als Verbands- und Vereinssport sind sämtliche soziale Schichten und Bevölkerungsgruppen vertreten. Gerade im Vergleich zu anderen Sportarten (z.B. Boxen, Golf) stellt dies ein gewichtiges Argument dar. Durch das soziale Netzwerk im Verein, das auch bei uns eine eigene Sozialstruktur, in der Personen sämtlicher Sozialschichten zu finden sind, aufweist, wird der Zugang zur Mehrheitsgesellschaft erleichtert. Ferner ist die Gemeinschaftlichkeit im Training geschlechterübergreifend und unabhängig von sozialen Schichten. Entsprechend unterstützt diese Struktur die vorurteilsfreie Inklusion in eine vielschichtige Gemeinschaft mit dem Potential, durch diese Verbindungen in sämtliche Gesellschaftsbereiche auf- und auszubauen.

c) Positive Interdependenz und Gleichgestelltheit des Partners als oberstes Paradigma

Karate ist zwar ein Kampfsport bzw. eine Kampfkunst, jedoch findet in der Regel nur Leichtkontakt statt. Eine Verletzung des Gegners ist im Gegensatz zu anderen Kampfsportarten (z.B. Boxen) nicht gewollt. Mehr noch: Im Karate ist es das absolute Ziel, den Partner nicht zu verletzen und die Integrität seiner körperlichen Unversehrtheit zu bewahren. Dazu werden sämtliche im Training gelernten Techniken mit höchster Präzision kontrolliert und knapp vor dem Körper des Partners abgestoppt. Die damit implizierte Botschaft lautet, dass das Gegenüber den gleichen Wert wie die eigene Person hat. Auf diese Sichtweise und Kontrolle müssen sich alle im Training Beteiligten gegenseitig verlassen können, miteinander trainieren und gemeinsam üben, denn sonst funktioniert Karate nicht. Dies trägt ferner zusätzlich zum Aspekt der Gemeinschaftlichkeit bei und fördert darüber hinaus, durch den bestätigten Vertrauensvorschuss, den schnellen Aufbau persönlicher Beziehungen.

d) Deeskalation und Anti-Aggressionstrainings

Als weiterer Punkt sei schließlich aufgeführt, dass der Katharsis-Hypothese für Karate bedingte Gültigkeit zugesprochen wird. Dies bedeutet, dass durch Karate Training Aggressionen konkretisiert und zielgerichtet sowie nichtschädlich ausgelebt werden können. Karatetraining kann entsprechend als gelebtes Deeskalations- und Anti-Aggressionstraining verstanden werden.

e) Günstige Kosten und temporäre Aufhebung gesellschaftlicher Hierarchisierung

Alle Karateka tragen weiße, funktionale Baumwollanzüge. Dabei gibt es zwar unterschiedliche Qualitätsstufen, diese sieht man ihnen jedoch kaum an. Im Trainingsbetrieb zählen also lediglich die gezeigten Leistungen und Anstrengungen. Gesellschaftliche Unterschiede sind dadurch temporär aufgehoben; zugunsten einer gleichgestellten Trainingsgruppe, in der lediglich die darin gezeigten Bemühungen relevant sind.

f) Moralischer Verhaltenskodex des Karate mit überkulturellen Werten

Verankert in den spezifischen ethischen Werten, die sich in der konfuzianisch geprägten Geschichte des Karate entwickelt haben, sind für die Karate Trainingspraxis bestimmte, niedergeschriebene Regeln (Dojo-Kun) maßgeblich und handlungsweisend. Sie beziehen sich dabei auf Respekt, Höflichkeit, Ehrlichkeit, aufrichtiges Bemühen und die Bewahrung vor übertriebener Leidenschaftlichkeit. In Zusammenschau beflügeln diese gegenseitiges Näherkommen und Austausch über das Training hinaus.

g) Körperlichkeit der Kampfkunst als (Kennen-)Lernhilfe

Körperlichkeit ist der Kampfkunst Karate immanent. Dies hat zwei für die Integration funktionale Folgen. Einerseits lernt man sehr viel über die visuell orientierte Nachahmung. Falls man in einem anderen Land und mit einer anderen Sprache bereits Karate praktiziert hat, so gibt es international gültige japanische Ausdrücke, die in jedem Training handlungsreichend sind. Beides erleichtert den sportlichen Betrieb in einer anderen Kultur und Sprache. Andererseits erfolgt durch das miteinander Sporttreiben, das durch hohen Körperkontakt geprägt ist, automatisch auch ein deutliches Näherkommen. Körperkontakt als integraler Bestandteil des Karate hilft entsprechend, Hemmschwellen abzubauen und Kontakte aufzubauen.

Für eine empirische Bestätigung dieser Aspekte sei auf die wissenschaftlichen Arbeiten von Oehmichen (2010) im Rahmen seiner Doktorarbeit verwiesen. Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass „Karate […] ein Helfer der Gerechtigkeit“ (Schlatt, 1995, S. 106) ist und eine Sportart darstellt, die auf besondere Weise der Integration und Inklusion dienlich ist.